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Persönlicher Erfahrungsbericht

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für ERASMUS-Interessierte von S. V.

Gasthochschule: Bahçeşehir University Istanbul, Türkei
Zeitraum: 09/2012 bis 06/2013

Ich habe über das Erasmus Austausch Programm durch die Informationen im Internet zu Auslandsaufenthalten durch meine Fakultät erfahren.
Dort erfuhr ich detaillierte Informationen zu Partnerhochschulen im Ausland und zu welchen Fristen es möglich war sich für einen Auslandsaufenthalt zu bewerben.
Ich habe, nachdem ich mich für einen Aufenthalt in Istanbul entschieden hatte, mit dem zuständigen Verantwortlichen meiner Heimatuniversität getroffen und da noch Plätze für einen Aufenthalt in der Türkei frei waren, bekam ich direkt eine Zusage, nachdem ich die nötigen Unterlagen zur Bewerbung eingereicht hatte. Daraufhin setzte ich mich mit der Erasmuskoordinatorin meiner Gasthochschule in Verbindung. Sie versorgte mich mit allen nötigen Unterlagen und Informationen, die ich für die Einschreibung der Gasthochschule benötigte.

Ich konnte mir leider nur Kurse des vergangenen Semesters ansehen und mich daraufhin bewerben, da die Kurse des kommenden Semesters noch nicht feststanden.
Nach meiner Ankunft bekam ich einen Zugangscode für das online-Anmeldesystem der Bahçeşehir University.
Zum größten Teil entschied ich mich für Kurse meines Departments (Photo/Video) es war mir zudem auch möglich, Kurse anderer Departments zu belegen, soweit die Hälfte der belegten Kurse die meines Departments waren.
Das Kurssystem war nicht mit ECTS-Punkten gekennzeichnet, aber der Erasmus Koordinator meines Departments gab mir alle nötigen Informationen zu den Leistungspunkten und deren Umrechnung.

Ausnahmslos alle Kurse wurden benotet und es galt bei allen Kursen entweder eine schriftliche Prüfung oder eine praktische Arbeit zu schreiben/abzugeben.
Die Kurse waren recht klein von der Teilnehmeranzahl, was ein gutes Lernklima ermöglichte. Die Lehrenden konnten sich für einen persönlich Zeit nehmen und einem mit Rat und Tat zur Seite stehen.

Das Studienklima generell war sehr offen und freundlich. Ungefähr die Hälfte meiner Kurse waren praktische. Zum Teil mit Teamarbeiten, was gut funktionierte. Die Anforderungen wurden meist in kleinere wöchentliche Assignments, eine Midterm-Prüfung, oder praktische Arbeit und eine Abschlußprüfung, oder Abschlußarbeit gegliedert.Durch die kleineren Assignments hatte man die Möglichkeit, die Unterrichtsinhalte direkt in praktische Arbeiten umzusetzen.
Da ich im Photo/Video Department war und deshalb viel gefilmt und fotografiert habe, war ich von technischen Hilfsmitteln abhängig.
Die Universität war sehr gut mit Photo/Film Studios, einer Dunkelkammer und einem Technickverleih mit hochwertigem Material ausgestattet. Allerdings war die Anzahl der Kameras sowie Stative etc. viel zu gering für die Anzahl der Studenten, die diese benötigten. Was zur Folge hatte, daß man oft lange Wartezeiten in Kauf nehmen musste, um sich technisches Material ausleihen zu können. Das hat meine Arbeit oft sehr behindert.

Eine Bibliothek war direkt in der Universität vorhanden, die zu den üblichen Zeiten geöffnet hatte, sowie frei zugängliche Computerpools, gut zu benutzen, mit der nötigen Software ausgestattet.

Die Unterrichtssprache an meiner Universität war zwar offiziell englisch, jedoch haben die Lehrenden oft einen Extrakurs für die Erasmus-Studierenden eingerichtet, da die meisten türkischen Studierenden Unterricht in türkischer Sprache bevorzugten - außer der Unterricht wurde ausschließlich auf englisch angeboten, wenn etwa die Lehrenden selbst nicht türkisch sprachen, dann hatte ich auch Unterricht mit türkischen Studierenden.
Ansonsten war ich meistens gemeinsam mit anderen Erasmus Studierenden in den Kursen. Dieser Umstand war hilfreich und nützlich, da jeder andere Erfahrungen gemacht hatte und man sich in Sachen Studienorganisation gegenseitig weiterhelfen konnte.
Ich habe vor meinem Auslandsaufenthalt einen Türkisch Sprachkurs in der Volkshochschule belegt. Es wurde ein Türkisch Sprachkurs an meiner Gastuniversität angeboten, dieser wurde allerdings auch von Schülern belegt, die schon fortgeschritten in türkisch waren. Zudem war die Organisation dieses Sprachkurses sehr konzeptlos und chaotisch, weshalb er mir für mein Sprachverständnis wenig gebracht hat. Außerdem wurde nur einmal die Woche für 2 Stunden angeboten. Ich habe mir im Alltag einige Phrasen angelernt und kann nach 8 Monaten Istanbul recht viel türkisch verstehen, sprechen jedoch eher weniger.

Zu Beginn habe ich bei Freunden auf der asiatischen Seite Istanbuls gewohnt, die Fahrt von dort zur Universität hat aber zu lange gedauert, sodass ich mir nach kurzer Zeit über CraigsList ein Zimmer in einer WG in Nähe meiner Uni gesucht habe. Generell ist zu betonen, dass Istanbul eine sehr große Stadt ist, und man sich bei den Entfernungen, die täglich zurückzulegen sind nicht verschätzen sollte.
Man bekommt zum Anfang jedes Semesters eine Bescheinigung von der Universität, mit der man sich von den Betrieben der öffentlichen Verkehrsmittel für eine kleine Aufwandsgebühr einen Studierendenausweis für den ÖPNV ausstellen lassen kann. Damit zahlt man nur die Hälfte des üblichen Transportspreises.

Es lohnt sich, ein Zimmer im Zentrum zu suchen. Denn die meisten Universitäten, die weiter außerhalb liegen, bieten einen eigenen Shuttleservice an oder sind gut durch Busse zu erreichen.
Es werden meistens keine Mietverträge aufgesetzt, weshalb es unbedingt wichtig ist, die finanziellen Abmachungen mit dem Vermieter im Vornherein klar und am besten unter Zeugen mündlich zu regeln.
Die Miete in Istanbul entspricht etwa der Höhe des Quadratmeterpreises in Berlin und wird meistens bar bezahlt. Man muss jedoch davon ausgehen, dass man als Erasmus-Student mehr bezahlt als Einheimische.
Für Bankgeschäfte lohnt sich eine Kreditkarte, mit der man international gebührenfrei Geld abheben kann. Ansonsten bezahlt man mit einer Deutschen EC Karte immer ca. 3% Gebühren am Automaten.
Ich persönlich habe für meinen Aufenthalt in der Türkei eine Reiseversicherung abgeschlossen (Kosten 0,50€ pro Tag), aber generell bietet jede deutsche gesetzliche Versicherung einen Unfallschutz für jeden Versicherten, auch im nicht europäischen Ausland an. Dieser Unfallschutz deckt jedoch nicht die Reiserücktrittskosten oder normale ärztliche Behandlung, etwa bei einer Grippe ab.
Die Lebenshaltungskosten in Istanbul können variieren, je nachdem, wo man lebt, isst und einkauft. Die Wochenmärkte bieten frische Lebensmittel zu günstigen Preisen und es gibt viele Restaurants außerhalb der großen Einkaufsstraßen, die erschwingliche und leckere Gerichte anbieten. Kleidung und Schuhe sind im Vergleich zu Europa sehr preiswert, da es in der Türkei eine große textilverarbeitende Industrie gibt und man daher in Outletstores Waren zu heruntergesetzten Preisen kaufen kann.
Es gibt in den Universitäten Mensen, diese sind jedoch kaum erschwinglicher als ein privates Restaurant. Daher lohnt es sich, sein Essen selbst mit in die Universität mit zu bringen. Dadurch kann man tatsächlich einiges an unnötigen Ausgaben für überteuertes Essen sparen.
Freizeitangebote wurden von unserer Universität auch angeboten,es gab leider wenig Sportangebote.

Ich habe mich meistens mit meinen türkischen Mitbewohnern und meinen Erasmus Freunden, sowie Menschen, die man auf der Strasse in Clubs und Bars trifft organisiert. Es entstand eine lebendige Gruppe aus Menschen verschiedener Nationen und Kulturen und war gehaltvoller als jedes vorab angebotene Freizeitangebot.

Als Tipp für die nachfolgenden Studenten kann ich nur sagen, dass sich nur ein Bruchteil der Organisation im Heimatland bewältigen lässt, da vieles erst in persönlichen Gesprächen mit den beteiligten Lehrenden und Koordinatoren geklärt werden kann. Zudem sollte man sich etwas Zeit nehmen, bevor das Semester anfängt, um sich einzugewöhnen. Da viele Kurse erst zu Beginn des neuen Semesters wirklich fest stehen, sollte man sich auch bis dahin gedulden sie auszuwählen. Es ist vorher schlicht nicht möglich.
Meine persönlichen Erfahrungen betreffend: Ausnahmslos jede Erasmus-Studentin, die ich kannte und nicht türkisch aussah, wurde sexuell belästigt. Meist im öffentlichen Raum, oft, wenn sie alleine auf dem Weg nach Hause waren.
Eine Studienkollegin aus China wurde vor ihrem Hostel aufs heftigste rassistisch und sexuell genötigt und tätlich angegriffen. Eine Anzeige bei der Polizei wurde verschleppt und der Sachverhalt nicht weiter verfolgt. Als sie sich ans internationale Büro der Bahçeşehir Universität wandte, hatte sie das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden. Sie reiste frühzeitig ab.

Es ist absolut notwendig diese Informationen an Student_Innen weiterzugeben, die einen Aufenthalt in der Türkei in Betracht ziehen. Die Türkei mag ein Land sein, das von Männern dominiert wird und Menschen, die in der Türkei leben, sind daran gewöhnt, sich mit diesen Situationen abzufinden. Wenn man eine Frau mit blonden Haaren ist, sieht das aber ganz anders aus. Das ist schade, muss aber auf jeden Fall so kommuniziert werden

Ich war während der Proteste im Juni in der Türkei und habe mitbekommen, wie sich die Zivilgesellschaft organisiert und erhoben hat, gegen politische und wirtschaftliche Missstände, Korruption und institutionalisierte Lügen. Ich habe dort einen Zusammenhalt und Solidarität zwischen Menschen erlebt, wie ich sie nie zuvor gesehen habe. Die türkische Bevölkerung ist sehr bunt, hat viele Gesichter und Meinungen, die oft nicht auf der Oberfläche erscheinen. Ich habe erst nach einiger Zeit begriffen, dass ich nicht versuchen kann, dies mit meiner zentraleuropäischen Sichtweise zu verstehen, sondern Geduld haben muss, um alles in mich aufzunehmen und nicht im Voraus zu bewerten.
Ich würde jeder Person raten, die sich für ein Auslandsaufenthalt interessiert, einen Aufenthalt für zwei Semester zu planen. Ich hatte das Gefühl, erst nach dem ersten Semester richtig angekommen zu sein. Und ich habe meine wichtigsten Erfahrungen erst im zweiten Semester gemacht, nachdem ich mich richtig eingelebt hatte.

S. hatte einen tiefen, wenn auch viel zu kurzen, Einblick in die bunten Gesichter und Meinungen der türkischen Bevölkerung Istanbuls. Wollt ihr noch mehr wissen? Dann schaut mal hier:

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